Die Kunst, den Charakter des Menschen zu erkennen! von Heinrich Vorwahl, Visarius-Bücher.

m an den kanten bestoßen, papiergebräunte seiten. `Praktische Menschenkenntnis ist schlechthin für jedermann von Bedeutung. Für Mann und Frau bei der Gattenwahl, für die Eltern und Erzieher wegen der Behandlung der Kinder, für den Arbeitgeber bei der Auswahl seines Personals, für den Arbeitnehmer im Verhältnis zu seinen Vorgesetzten, für den angehenden Beamten bei der Bewerbung um eine Stellung, für den Kaufmann im Umgang mit dem Publikum, immer ist Menschenkenntnis zweckdienlich, wenn nicht gar unbedingt erforderlich. Denn es erleichtert die vom Leben gestellten Aufgaben ungemein, wenn man weiß, mit wem man es zu tun hat, wie der Partner sich jeweils verhalten wird, ob man ihm vertrauen kann, wie weit er einer Beeinflussung zugänglich ist.Das alles sind Fragen, welche die seelische Eigenart eines Menschen betreffen. Also sollte man erwarten, in den Lehrbüchern der Seelenkunde (Psychologie) darüber Aufschluß und Antwort zu bekommen. Wer aber hier Rat sucht, wird bald enttäuscht sein; er findet dort wohl etwas über den Stand der Forschung nach der Seite der Gehirnprozesse, , über Gesetze des Sich-erinnerns und Lernens, über die Elemente des Bewußtseins und ihre Gefühlsfärbung, aber mit diesen Begriffen ist den vom Alltag gestellten Fragen nicht beizukommen. Damit soll nicht gesagt werden, daß diese Wissenschaft von den Bausteinen des Seelenlebens überflüssig wäre ? im Gegenteil, sie ist so wichtig wie die höhere Rechenkunst für den Bauunternehmer, aber ein formenschöner Entwurf eines Landhauses oder einer Kirche erwächst nicht aus Einzelberechnungen, sondern ersteht als ein Ganzes vor dem geistigen Auge des Schöpfers. Wie ein solcher formenschöner Entwurf / B. einer Kirche denkbar ist, ohne daß sein Schöpfer die Zahlenverhältnisse der Gewölbespannung beherrscht, so gibt es eine vorwissenschaftliche Menke henlcenntnis ohne Psychologie. Zugegeben, daß «Urse noch wenig systematisch war und bisweilen geirrt hat. Aber vergessen wir nicht, daß auch die "Wissenschaft` zuweilen geirrt hat und die Irrtümer von gestern die wissenschaftlichen Wahrheiten von morgen werden können.Daß es sich bei der Menschenkenntnis um etwas Ganzheitliches handelt, das nicht erst zergliedert zu werden braucht, zeigt der sog. erste Eindruck einer fremden Person. Was wir in diesem Falle von Eigenart, Gefühlsablauf, Bildungsgrad, gesellschaftlicher Haltung erfassen, mag bei näherem Kennenlernen im einzelnen sich stetig verschieben und ändern, aber nach langem Tasten und Schwanken im Urteil greift man gewöhnlich auf den ersten Eindruck zurück, weil er als Gesamteindruck das treffendste Bild vermittelte. Ebenso sind Frauen, auch wenn sie ganz unwissenschaftlich sind, oft bessere Menschenkenner und geschickter in der Menschenbehandlung als grundgelehrte Männer.Wie die Formenschönheit eines himmelanragenden gotischen Domes oder eines weit in die Waagerechte ausgreifenden griechischen Tempels zwar aus Steinen besteht, aber niemals aus den abgetragenen einzelnen Steinen zu erkennen ist, sondern auf ihrer Ganzheit, dem Stil, beruht, der der Zusammensetzung der Einzelsteine erst die gemeinte Schönheit verleiht, so ist es auch mit der seelischen Eigenart der Menschen, ihrem Wesen oder Charakter. Wie wir beim Lesen zwar die Buchstaben aufnehmen, aber nichts davon haben, wenn wir dabei verweilen, ein A oder O vor uns zu haben, sondern nur durch die Buchstaben hindurch die "Bedeutung` des Wortes erfassen, so ist es auch mit den Einzelzügen des Menschen. Daß in dem Film "Der Herrscher` der Schwiegersohn nach der Trauerfeier die Zeit nicht abwarten kann, bis das Essen beginnt, zeigt nicht etwa nur, daß er Hunger hat, sondern daß er ein liebloser und gieriger Charakter ist. So ist die Form des Körpers und Gesichts, die Art, wie ein Mensch ■ bewegt, lacht, schreibt, zornig ist, mit den Händen in den Hosentaschen herumsteht, einen hämischen Zug um den Mund hat, nicht bedeutsam an sich, sondern in seiner Bedeutung für den Charakter. Mit Recht sagt man in der Umgangssprache: Wir lesen im Gesicht des anderen ? Man muß nur Ohren haben für die Sprache der Seele, sagt Müller-Freienfels einmal. Wie nun in der Baukunst die verschiedene Einordnung der Steine und ihre jeweils andersartige Linienführung den Stil eines Bauwerkes ausmacht, den wir in den mannigfachen Beispielen stets wiedererkennen, lassen sich auch die menschlichen Charaktere zu Stilgruppen zusammenfassen, die wir als "Typen` bezeichnen. Schon das Kind lernt bald, die Menschen nach gewissen Typen einzuteilen: es lernt Mann und Frau, Erwachsene und Kinder, Freunde und Fremde unterscheiden. Ja, schon kleine Kinder und selbst Tiere verhalten sich anderen gegenüber in erstaunlich sicherer Weise. Scheint damit die Fähigkeit der "Menschenkenntnis` angeboren zu sein, so lernt doch auch das Tier wie der Mensch aus der Erfahrung. Diese Summe menschlicher Erfahrungen wie der methodischen Versuche, sie zu vertiefen, weiteren Kreisen zugänglich zu machen, ist das Ziel dieses Buches..`Auszüge aus dem Buch

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